Manchmal fehlt mir die Zeit, zum Beispiel für Literatur. Am dringendsten möchte ich Annette von Droste-Hülshoff kennenlernen, die hierzulande berühmteste Dichterin, über die ich erschreckend wenig weiß. Dabei liegt das Gute so nah: Auf meinem Schreibtisch stapeln sich mehrere ihrer Werke. Ich habe sie mir zu Weihnachten schenken lassen. Zeit zum Lesen war bislang nicht.
Immerhin sind Texte und Bücher der Anlass für meinen Ausflug nach Oelde: Ich fahre zum Museum für Westfälische Literatur im Kulturgut Haus Nottbeck. Nur eine Dreiviertelstunde brauche ich bis zu dem früheren Rittergut, etwas außerhalb im Ortsteil Stromberg gelegen. Es scheint eine Welt für sich zu sein: Weit und breit nichts als Felder, Wiesen, Wald – und in den Gräften spiegelt sich das Himmelblau. Zwischen den Obstbäumen picknickt eine große Runde, in den Hof biegen zwei Radfahrer ein, aus dem Haus laufen Kinder mit Stift und Papier. Nottbeck ist eine Idylle. Um einen Geheimtipp handelt es sich bei diesem Ort nicht. Und doch bin ich hier zum ersten Mal.
Vor 22 Jahren eröffnete das Literaturmuseum. Wie es dazu kam, ist eine besonders schöne Geschichte: Anna-Luise Eissen, letzte Eigentümerin von Nottbeck, schwebte für die Zukunft eine kulturelle Nutzung vor. Als sie 1987 starb, erbte der Kreis Warendorf das Anwesen. Spätestens als das Museum einzog, erfüllte sich Eissens Wunsch.
Historische Gebäude sind mir ja am liebsten, wenn sie wirklich zu einer Zeitreise taugen und nur Kleinigkeiten ans Heute erinnern. Nottbeck ist so ein Glücksfall. Wer die Fassade des Herrenhauses nicht nur zum Ablesen der Zeit nutzt (eine Uhr ist im Giebel integriert), kommt der wechselvollen Geschichte dieses Ortes leicht näher. Über Jahrhunderte lebten hier die fürstbischöflichen Amtsdrosten von Oer, Nottbeck war zudem Sitz des Landrats dieser Familie. Der Ursprung der einstigen Wasserburganlage lässt sich bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgen.
Bei meinem Besuch bleibe ich erst einmal draußen und gehe ums Haus. Ein Weg führt über den Rasen zu einer Hörstation – ein „Audiowalk“ mit Schriftstellerinnen, die von den 1830er bis 1990er Jahren wirkten, beginnt per Knopfdruck. „Schön, dass du da bist. Gemeinsam mit dir möchte ich heute Münsters Innenstadt neu entdecken“, höre ich. „Wir werden den Spuren fünf bedeutender Autorinnen folgen und die Stadt mit ihren Augen sehen.“ Jetzt begegnet sie mir wieder: Annette von Droste-Hülshoff ist zu Gast im Salon Else Rüdigers, einer engen Freundin. Durch Münster zu spazieren, und das ausgerechnet hier im Grünen, ist ein Erlebnis. Von den Hörstationen gibt es draußen und drinnen übrigens noch einige zu entdecken.
Als ich die Gräfte überquere, finde ich im Gras einen kleinen, folierten und ziemlich abgenutzten Zettel. Vermutlich ein Schild, handschriftlich versehen mit einem einzigen Wort: „mehr“. Im Museum frage ich die freundliche Mitarbeiterin, ob es im Haus womöglich irgendwo fehlt. Nein, offenbar nicht. Während wir beide über das Fundstück rätseln, geht eine Gruppe von Mädchen und Jungen an uns vorbei. Sie sind zum kreativen Schreiben hier, erfahre ich, und denke sofort: Dies ist der ideale Ort dafür. Und könnte nicht das Wörtchen „mehr“ der Anlass für eine Geschichte sein?
Das Museum selbst spannt den Bogen von den Anfängen der westfälischen Literatur bis zu den Autorinnen und Autoren der Gegenwart. Natürlich spielt Annette von Droste-Hülshoff wieder eine große Rolle, unter Glas ist sogar eine beachtliche Büste von ihr ausgestellt. Nebenan finde ich Literaten und ihre Werke, deren Namen ich kenne (mehr zumeist aber nicht). Darunter Max von der Grüns „Stellenweise Glatteis“. Allein der Titel ist ja wohl sagenhaft. Das Buch muss ich lesen, die Verfilmung von 1975 unbedingt sehen.
In einer Vitrine sind Bücher von Peter Paul Althaus aufgereiht. Der 1892 in Münster geborene Schriftsteller trägt mir sein Gedicht „In der Traumstadt ist ein Lächeln stehn geblieben“ persönlich vor – eine alte Originalaufnahme macht’s möglich. Das ist eindringlich, berührend, wunderbar.
Eine Weile höre ich auch den Autorinnen und Autoren zu, die über ihr Schaffen Auskunft geben. Wie sie schreiben, wo und worüber, was sie bewegt und was nicht, wird über Videos im Raum unterm Dach eingespielt. Eine der Aussagen, die ich mir gemerkt habe, stammt von Wiglaf Droste: „Mein Wunschlebensort? Unterwegs.“ Zum Schluss steige ich im Keller zur Kinder- und Jugendliteratur hinab und sehe Bücher, die mich schon mein Leben lang begleiten. Warum eigentlich nicht mal wieder etwas lesen, das mich als Achtjähriger kaum losgelassen hat?
Beim Gang durch die Räume hole ich ständig meine Handykamera hervor. Buchcover, Lebensläufe und Zitate will ich sichern, um zu Hause mehr über die Autorinnen und Autoren herauszufinden. 64 Schnappschüsse sind es in anderthalb Stunden, weit mehr als erwartet.
Der kleine Zettel aus dem Gras hängt jetzt über meinem Schreibtisch. Ich nehme mir künftig Zeit für Literatur, lautet ein Versprechen an mich selbst. Neben Annette von Droste-Hülshoff ist da nämlich noch so viel mehr, das mich interessiert.
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